Ruhe. Heute fühle ich zum ersten Mal eine tiefe Ruhe in mir. Sie kommt langsam, und wenn ich da hinein spüre muss ich fast weinen, aber nicht weil ich traurig bin, sondern weil es so gut ist.
Ich habe gesucht nach dieser Ruhe. Und alles Äußerliche ist so stark, wehrt sich so vehement gegen ein inneres Ankommen, dass es lange dauert.
„Ehrlichkeit“ ist das Thema dieser Etappe durch die Sextener Dolomiten. Und das Thema steht in seiner Authentizität in einem starken Kontrast zu dem Trubel des Bergtourismus hier oben. Die Leute wandern ohne sich umzusehen, viele lassen ihren Müll liegen. Ich habe auf dem Weg von der Rotwandwiesenhütte bis zur Zsigmondyhütte eine ganze Tüte voll Kippen, Riegelverpackungen, Plastikflaschen und Taschentüchern eingesammelt. Es macht mich traurig, wie respektlos die Menschen hier mit der Natur umgehen.
Den Kontrast habe ich auch in meinem eigenen Verhalten gespürt. Ich habe langsam keine Lust mehr jedem der mir begegnet zu erzählen, was ich mache und wo ich hingehe. Es sind immer die selben Fragen, immer ein „oh“ und „ah“ oder eine Frage nach der Marke meines Schlafsacks, meines Rucksacks, meiner Kleidung. Anfangs hat mir das Spaß gemacht, diese Unterhaltungen zu führen, weil ich stolz bin auf das was ich tue und weil ich meine Ausrüstung zu schätzen weiß und gerne darüber fachsimple. Inzwischen fühlt es sich manchmal hohl an. Wie eine Zeitverschwendung. Zeit, die ich nun lieber mit Schauen, mit Nachdenken, mit Schreiben, mit Yoga verbringen will.
Die Ruhe kommt durch diese Erfahrung. Ich beginne genügsamer zu werden, mit mir und mit meiner Umwelt. Das habe ich den Bergen zu verdanken, die in ihrer unglaublichen Kraft, Schönheit und Beharrlichkeit hier ruhen und mich als temporären Gast akzeptieren.
Abends habe ich auf einer Hütte noch mit einer Männergruppe einen Schnaps getrunken. Sie fragten mich aus zu der Tour und da war es, dass ich gemerkt habe, dass mir das antworten nicht mehr so viel Spaß macht. Dass mich aber auch das Nachfragen nicht wirklich interessiert. Ich bin sehr ehrlich geworden. Habe gesagt, dass ich die Tour auch mache um mich wieder neu zu zentrieren. Habe ihre Bierseligkeit ignoriert und einfach erzählt. Das war gut und hat fast ein richtiges Gespräch ausgelöst. Einer meinte, er würde sich wünschen er könne mit seiner Frau sowas machen, aber sie hätten jetzt ein Kind und da sei sowas nicht mehr möglich. Ich sagte darauf, dass es doch eine Frage des Standpunkts ist: ich hätte ja vielleicht gerne eine Familie, während er sich nach der vermeintlichen „Freiheit“ sehnt. Auf Englisch sagt man „the grass is always greener on the other side of the fence“. Das stimmt. Allerdings mag ich mein grünes Gras hier oben gerade sehr und will wirklich im Moment über keine anderen Zäune klettern als über Kuhgatter.
Ich will versuchen noch mehr Distanz zu den Hütten zu wahren. Es war gut, für die Eingewöhnung, in der Nähe von Hütten zu übernachten. Und wenn das Wetter es fordert, werde ich das natürlich auch weiterhin machen und ich werde auch weiter einmal am Tag warm essen. Aber ich will mehr Zeit für mich verbringen und weniger in den ewig gleichen Hüttengesprächen. Ich will endlich anfangen, mir mit den Sternen Zeit zu nehmen. Bis jetzt bin ich immer spätestens nach der zehnten Sternschnuppe eingeschlafen. Ich freue mich auf die nächste Etappe. Sie heißt „Aufgeschlossenheit“ und geht durch die Puezgruppe, das Sellajoch und bis zum Rosengarten in den westlichen Dolomiten.
Bebildert durch die Augen der Fotografen Christian Bock, Merlin Essl, April Larivee, Anne Kaiser, Anna Euler und Lars Schneider.