Medizinisch wurde mir attestiert, dass ich ein 160%iges Lungenvolumen habe. Ich konnte damit – außer dem diffusen Gefühl ohne etwas dafür getan zu haben bei etwas „besser als Andere“ zu sein – nie etwas anfangen. In den letzten Tagen der Etappe durch die Ortlerregion hatte ich das Gefühl, diese 60% extra endlich zu spüren und sie zum Einsatz zu bringen.
Vermutlich ist das zu 90% psychosomatisch. Dennoch entsteht eine starkes Empfindung: Ich verwende jetzt Kapazitäten, die mir vorher nicht bewusst zur Verfügung standen. Ich nehme in einer Tiefe wahr, die mir noch vor Kurzem verwehrt war. Ich erlebe eine Höhe, in der ich mich sonst nur in meinen Träumen aufgehalten hatte. Und ich spüre eine Ruhe, die wie ein Gletschersee von ferne türkis, schwer und undurchsichtig wirkt und sich von Nahem als klar und frisch erweist. Nichts Muffiges umgibt mich, statt dessen entfalten sich Gletscherspalten und Felsformationen.
In seiner ganzem weisen Imposanz entblößt das Eis seine schwarzen Abgründe, schreckt stellenweise mit seiner schmutzigen Oberfläche und zeigt seine Verletzlichkeit in der zarten blau-türkisen Farbe der Ränder seiner Spalten, die sich wie tiefe Sorgenfalten in das makellose Gesicht der Bergfläche graben. Im selben Moment fließt der Stoff seiner Existenz als Wasser durch die Spalten. Es gräbt windende und wirbelnde Bäche in die Oberfläche. Es gurgelt und plätschert und kündet in fröhlich leichtem Tonfall das im schmelzen begründete drohende Ende.
Die Felsen, die von fern eine rohe, rauhe und unüberwindbare, manchmal geradezu brutale Oberfläche zeigen, entfalten vor Ort Griffe und Tritte, die es mir erlauben sie temporär zu bewohnen, ihnen einen respektvollen Besuch abzustatten. In ihrer mahnenden Stille zeigen sie mir mein Format – weisen mir einen Platz zu, den ich mir selbst besser nicht wählen könnte. Ja, den ich ohne sie vielleicht nicht einmal finden würde.
Fels und Eis erlauben mir innerlich loszulassen. Und alles was ich loslasse entfaltet sich nach außen. Wie ein langer und nicht endender Seufzer, der immer neue Erleichterung schafft. Aber wie bei dem Seufzer folgt auch hier der Bedarf wieder einzuatmen, mich zusammenzuziehen, einen Kern zu fühlen. Ich will nicht zerfließen. Ich will in meiner Vielseitigkeit, mit meinen Zacken und Kanten, mit meinen blauen Rändern, meinem gurgelndes Wasser und mit den dunklen Abgründen ein Sein entfalten.
Bebildert durch die Augen der Fotografen Christian Bock, Merlin Essl, April Larivee, Anne Kaiser, Anna Euler und Lars Schneider.