Während außen das Wetter auf dieser Etappe von Scoul nach Davos größere Wellen gemacht hat, wurde ich auch innen aufgewühlt. Schon der Beginn der Etappe versprach Turbulenzen. Wegen dem vielen Schnee musste ich die Route ändern. Mich hat das beunruhigt, weil ich zum ersten Mal dachte, die Berge könnten sich mir mit unüberwindbarem Wetter in den Weg stellen. Am selben Tag habe ich erschrocken festgestellt, dass ich mich an die gewaltige Schönheit die mich hier ständig umgibt schon fast gewöhnt habe. Ich habe mich immer öfters dabei ertappt, wie ich mich auf dem Weg gedanklich schon mit der Zukunft beschäftige, wie ich mal wieder auf dem Handy nach Netz suche um wieder eine Nachricht zu schreiben und wie ich dabei manche Schätze in der Gegenwart verpasse. Glücklicherweise haben mir ein paar Tautropfen, die wie Perlen an einem Grashalm aufgefädelt waren, und ein unbeschreiblich schöner Regenbogen wieder vor Augen geführt, dass es sich lohnt manchmal langsamer zu gehen, stehenzubleiben und genauer hinzusehen. Ich beschreibe hier im Blog ja nur einen Bruchteil dessen, was ich tagtäglich da draußen erlebe. Viele dieser Erfahrungen lassen sich nicht in Worte fassen, geschweige denn fotografieren. Sie sind ganz nur mein und setzen sich unteilbar in meinem Innern fest. Dort schlagen sie hoffentlich Wurzeln und lassen mich an ihnen wachsen.
Wie schon manchmal erwähnt bringt es auf meinem Weg hier nicht viel, weit über den nächsten Tag hinaus planen. Unvorhergesehene Vorkommnisse und vor Allem das Wetter sorgen oft genug für spontane Anpassungen der Route. Aber das planerische Denken ist durch meinen sonstigen Alltag bzw. durch unsere (mitteleuropäischen) Zivilisation so tief in meinem Wesen verankert, dass ich noch jetzt – nach 5 Wochen hier draußen – oft sinnlos Zeit damit verbringe beispielsweise die Wettervorhersage von der nächsten Woche zu studieren. Wohl wissend, dass sie schon am nächsten Tag wieder ganz anders aussehen kann. Ich habe festgestellt, dass mir das insbesondere dann passiert, wenn ich stehenbleibe. Wenn ich Pause mache. Wenn ich im Tal bin. Dann holt mich mein Alltagshirn ein, mein „machen-machen-machen“-Gen. Dann geht es um das digitale Planen, das mediale Teilen, das telefonische Kommunizieren. Alles Substitute um die Stille zu vermeiden, die hier oben doch so wertvoll und nahrhaft ist. Noch immer hält dieser Drang mich manchmal fest, macht mich dann fast blind, lässt mich zumindest temporär meinen Fokus auf einen 5x10cm Bildschirm verlegen, anstatt die Weite des Moments zu atmen.
Bis jetzt kam meistens alles etwas anders als geplant. Und immer war es gut so. Diese Feststellung gibt mir ein Vertrauen, das es mir auf meinem weiteren Weg vielleicht leichter machen wird, die Kostbarkeit der Gegenwart anzunehmen und zu genießen.
Wie oft denken wir, dass wir jede Minute nutzen müssen. „Zeit ist kostbar“ sagt man. Aber wie oft bedeutet das, dass wir diese kostbare Zeit nur dafür nutzen um die jeweils nächste Zeit zu planen. Wie selten ist es nur das hier und jetzt, die Gegenwart die zählt. Obwohl wir doch eigentlich vermeintlich alles dafür tun, genau diese zu erleben.
Ich kann hier nun nicht behaupten, dass es mir auf dieser Etappe schon gelungen sei, die Gegenwart bei jedem Schritt zu erleben. Aber das hier draußen zu üben ist eine schöne Herausforderung für die kommenden Etappen.
Andererseits empfinde ich schon deutlich Veränderungen in mir. Mir ist das in den letzten Tagen erst bewusst geworden. Insbesondere empfinde ich das in der Art und Weise der Begegnungen mit andern Menschen. Anfangs auf der Tour habe ich viele Leute kennengelernt, mit Jedem geredet und wieder und wieder von meinem Projekt erzählt. Nach und nach habe ich mich immer mehr in mich zurückgezogen, allerdings auf eine für mich wohltuende Art. Ich habe das ständige Reden mit der Zeit fast wie eine Verschwendung empfunden. In den Erzählungen manifestieren sich (wie in Fotos) die Erinnerungen. Dann kann es passieren, dass sie darin zu schnell wie in verzerrten Standbildern erstarren. Dann fehlt die Dynamik, der Fluss, der Wind, der Horizont jenseits der Bildränder. In der eigenen stillen Rückschau hingegen tauchen immer wieder neue Nuancen und Details auf, die zunächst vergessen schienen oder deren Wahrnehmung mir gar erst im Nachhinein bewusst wird. Diese Form der Verarbeitung von Erlebtem scheint mir jetzt sehr viel reichhaltiger und mehrdimensionaler. Auch sie verlangt nach Gegenwart und nach der Erlaubnis für Stillstand.
Die Unterhaltungen die ich jetzt führe, die passieren. Sie werden nicht angestoßen, sondern sie entstehen. Ich habe festgestellt, dass es jetzt meistens „Bewohner der Berge“ sind mit denen ich zunehmend eine Sprache teile, bei der man nicht viel reden reden muss. Einfach sitzen und den Sonnenaufgang beobachten, oder schweigend dabei zusehen wie sich eine Föhnwalze über den Berg schiebt. Und wenn wir reden, dann über das Unmittelbare, das Hier und Jetzt. Die Berge. Anspruchsvoll aber ohne Ansprüche zu stellen. Ich weiß nicht genau, wie ich das noch beschreiben soll. Man versteht sich. Vor einiger Zeit ist mir dazu ein Zitat begegnet, das vielleicht ganz schön passt.
„Wenn du die Zeit überholen willst, musst du alles Geschwinde vergessen und so wie ein Berg sein, geduldig und still, und alles geschehen lassen: Winde und Regen und Schnee und das Licht. – Und so wie ein Berg sein.“ (Paul Emanuel Müller)
Und damit bin ich wieder bei der Herausforderung in der Gegenwart zu bleiben. Gerade in diesen zwei Tagen hier in Davos tauchen zum ersten Mal Gedanken daran auf, wie es sein wird, wenn diese Reise vorbei ist. Und ich merke, dass ich Respekt davor habe in 21 Tagen „nach Hause“ zu kommen. Nichts hier oben macht mir Angst. Aber die Stadt, und der Fakt, dass meine Tage hier oben schmilzen, wie gerade der Schnee vor dem Fenster, das verursacht mir gerade Unwohlsein. Aber es ist gut, das jetzt zu merken. Ich habe schließlich noch fast drei Wochen Zeit um die Gegenwart so kennenzulernen, dass sie mir dann, nach dem Ende meines Projekts, wenn die Zukunft zur Gegenwart geworden ist, vertraut ist.